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Digitales Programmheft – Kohlhaas

Digitales Programmheft - Kohlhaas

Liebe Schülerinnen und Schüler,
Lieber Lehrerschaft,

Wir freuen uns sehr, dass Sie in unsere Vorstellung von „Kohlhaas“ gekommen sind. Diesen großen Stoff
für junge Menschen auf die Bühne zu bringen, ist ein Experiment, das wir gewagt haben. Viele
Schülerinnen und Schüler klagen über die Lektüre von Kleist, über die komplizierte Sprache und die
schwierigen Handlungsverläufe. Darüber, dass es staubig ist. Ich als Regisseurin verstehe diese Scheu
und denke dennoch, dass KOHLHAAS ein unglaublich aktuelles Stück ist, das junge und ältere
Menschen gleichermaßen angeht. Jeder wird irgendeinen Bezug zu Kohlhaas finden, sei es im Kleinen
Private, oder im größer gedachten politischen Kontext. Ein Mensch setzt sich zur Wehr und tut das mit
einer Unerbittlichkeit, die, wenngleich vielleicht erschreckend, so doch allzu menschlich ist. Und er wehr
sich gegen eine tatsächliche Ungerechtigkeit, dagegen, dass „die Herrschenden“ sich nicht an das
Gesetz, das doch für alle gelten soll, halten.
Es sind viele Themen, die „KOHLHAAS“ berührt. Wir hoffen, dass wir gemeinsam ins Gespräch kommen
können oder, dass ihr untereinander darüber diskutieren könnt. Für Gespräche, auch in der Schule,
stehen wir jeder Zeit gerne zur Verfügung.


Es ist das zweite Mal, dass das Harztheater für das „Jugendstück“ ein digitales Programmheft zur
Verfügung stellt. Wir wären Euch sehr dankbar, wenn ihr uns auf Instagram, Facebook oder per Mail an
unsere Theaterpädagogik mitteilen würdet, ob dieser Service für Euch gut ist.

Zusätzlich zu den Programmhefttexten haben wir ergänzend noch ein bisschen Material hinzugefügt.

Auf Instagram findet ihr immer Aktuelles zu unseren Produktionen. Folgt uns gerne.

Wir wünschen Euch ein intensives Theatererlebnis und freuen uns aufs nächste Mal!

Euer Team vom Harztheater

Euer Harztheater

KOHLHAAS

Von Marco Baliani und Remo Rostagno
Erzähltheater frei nach Motiven von Kleists Novelle „Michael Kohlhaas“
Aus dem Italienischen von Brigitte Korn-Wimmer
Spielfassung für das Harztheater von Rosmarie Vogtenhuber-Freitag

Inszenierung Rosmarie Vogtenhuber-Freitag
Ausstattung Bianca Fladerer
Regieassistenz Anne Janick, Noah Kearney

 

Erzähler / Kohlhaas Stefan Werner Dick

Inspizienz Anne Janick, Jaime Mendez Villamil | Dramaturgie Rosmarie Vogtenhuber-Freitag |
Technische Leitung Andreas Kempe | Bühnentechnik Adolf Dörre (Leitung), Marko Lohmann, Toni Polzius
| Beleuchtungstechnik Holger Hofmann (Leitung) | Beleuchtungseinrichtung Kent-Erich Weisheit, Toni
Polzius | Tontechnik Toni Polzius, Stefan Ulrich Requisite Michel Zelas | Maske Daniel Bednarz (Leitung),
Silvia Chirico, Sophia John, Leonie Sondermann | Ankleiderinnen Mandy Stolte (Leitung), Ute
Baumgarten, Kathrin Dalljo, Tamara Fricke, Sylke Kuska, Liane Richter | Herstellung der Dekorationen
und der Kostüme in den Werkstätten des Harztheaters | Werkstattleitung Marco Rockmann |
Kostümwerkstätten Kerstin Nagat (Leitung, Damengewandmeisterin), Andrea Günzler (Stellvertretende
Leitung, Herrengewandmeisterin) | Requisitenfundus Sandra Scholtissek | Bühnennahe Dienste,
Ausstattung Katrin Hahne

Premiere: 31.01.2025 Neue Bühne Quedlinburg
Aufführungsdauer: ca. 1 Stunden 30 Minuten – keine Pause
Aufführungsrechte: 3 Masken Verlag GmbH, München.
Fotos und Videoaufzeichnungen sind aus urheberrechtlichen Gründen nicht gestattet.

„EIN MENSCH, DER ALLES IST“ HEINRICH VON KLEIST (1777-1811)

Er ist vermutlich einer der unglaublichsten, verstörendsten und am schwersten zu greifenden Autoren
seiner Zeit. Der 1777 in Frankfurt a.d. Oder geborene Heinrich von Kleist entstammt einer der größten
Offizierssippen des preußischen Staates und tritt nach dem frühen Tod des Vaters „mit 15 Jahren, der
Familientradition entsprechend in das Potsdamer Garderegiment ein.“ „Während seines ganzen Lebens
ist Krieg in Europa, der Krieg bestimmt sein Dasein“. Seine Laufbahn scheint vorgezeichnet. Er wird
Fähnrich, dann Leutnant. 1799, am Ende der französischen Revolution, nimmt er – damals sehr
ungewöhnlich – seinen Abschied vom Militärdienst, um zu studieren. Er, den man heute vermutlich als
hochbegabt und hochsensibel einstufen würde, der alles konnte und den alles brennend interessierte
von Musik bis Experimentalphysik, lebt ein unstetes, zerrissenes und von Geldsorgen geprägtes Leben
zwischen Paris, der Schweiz, Österreich und Preußen. Seit 1800 arbeitet er vermehrt auch
schriftstellerisch, ja Schreiben wird zu einer wesentlichen Möglichkeit des Ausdrucks. Der an sich sehr
konventionelle Mensch Kleist sprengt sprachlich und literarisch alle Grenzen. Bis auf wenige Ausnahmen
schienen die meisten Zeitgenossen eher überfordert von dem eigenwilligen Charakter. Nach einer
gescheiterten Verlobung und einer kurzen Zeit im Staatsdienst, in der er sich mit juristischen Fällen der
Rechtsprechung beschäftigt, gibt er 1808 zusammen mit dem Philosophen und Staatstheoretiker Adam
Heinrich Müller in Dresden die Monatsschrift „Phöbus. Ein Journal für die Kunst“ heraus, in der auch die
Novelle „Michael Kohlhaas“ im Teilabdruck erscheint. Im selben Jahr wird auch sein Stück „Der
zerbrochene Krug“ durch Goethe zur Aufführung gebracht, fällt aber durch. Phasen von Krankheit
durchziehen das unstete, getriebene Leben. Nach dem Scheitern des Phoebus kehrt Kleist 1810 nach
Berlin zurück, wo er mit wichtigen Zeitgenossen wie Achim von Arnim, Brentano und Fouquet verkehrt. Er
ruft die Zeitung „Berliner Abendblätter“ ins Leben und erfindet damit das erste „Boulevardblatt“, das
sechs Mal pro Woche erscheint und kriminalistische Ereignisse und Klatsch und Tratsch der Großstadt
ebenso enthält, wie literarische Novitäten Kleists. Nach nur 156 Ausgaben muss Kleist die Abendblätter
nach Konflikten mit der Zensur wieder einstellen. Um seine Existenz zu sichern, unternimmt er verzweifelte
Versuche, wieder in die preußische Armee einzutreten. Am 21. November 1811 erschießt Heinrich von
Kleist sich und die befreundete, todkranke Henriette Vogel am kleinen Wannsee in Berlin. Am Morgen
seines Todes schreibt er an seine Schwester Ulrike: „Du hast an mir getan, was in Kräften (…) eines
Menschen stand, um mich zu retten: Die Wahrheit ist, daß mir auf Erden nicht zu helfen war; möge dir
der Himmel einen Tod schenken, nur halb an Freude und unaussprechlicher Heiterkeit dem meinigen
gleich: das ist der herzlichste und innigste Wunsch, den ich für Dich aufzubringen weiß.“ Erst nach
seinem Tod mit 34 Jahren wurde ihm der Ruhm zuteil, den er verdiente.

Tatanka Yotanka genannt Sitting Bull

LEBENSDATEN HEINRICH VON KLEIST

1777 Am 18. Oktober (laut Eintragung in das Kirchenbuch der Garnison, nach eigener Angabe am 10.
Oktober) wird Bernd Heinrich Wilhelm von Kleist in Frankfurt an der Oder geboren. Er ist der älteste Sohn des
Stabskapitäns und späteren Majors Joachim Friedrich von Kleist und dessen zweiter Frau Juliane Ulrike, geb.
von Pannwitz. Von den sechs Geschwistern stammen zwei Schwestern (Wilhelmine und Ulrike) aus der ersten
Ehe des Vaters. Den ersten Unterricht erhält Heinrich von Kleist durch einen Hauslehrer, den Theologen und
späteren Rektor der Frankfurter Bürgerschule Christian Ernst Martini (1762-1833).



1788 Am 18. Juni Tod des Vaters. Kleist wird u.a. in Berlin von dem Prediger Samuel Heinrich Catel (1758-
1838) unterrichtet.



1792 Am 1. Juni tritt Kleist als Gefreiterkorporal in das Bataillon des Regiments Garde Nr. 15b in Potsdam ein.
Am 20. Juni Konfirmation in Frankfurt an der Oder.



1793 Am 3. Februar Tod der Mutter. Anfang März reist Kleist nach Frankfurt am Main, wohin sein Regiment
zur Teilnahme am Rheinfeldzug gegen Frankreich verlegt worden war.



1795 Im April wird in Basel der Separatfrieden zwischen Frankreich und Preußen geschlossen. Am 14. Mai
wird Kleist zum Portepeefähnrich befördert. Am 11. Juli kehrt das Regiment Garde nach Potsdam zurück.



1797 Am 7. März wird Kleist Sekondeleutnant.



1798 Gemeinsam mit dem Regimentskameraden Rühle von Lilienstern (1780-1847) nimmt Kleist Unterricht in
Deutsch und Mathematik. Ihr Lehrer ist der Konrektor Johann Heinrich Ludwig Bauer (1773-1846) von der
„Großen Stadtschule“ in Potsdam. In einem Offiziersquartett (u.a. mit Rühle) spielt Kleist die Klarinette. Kleist
verkehrt im Hause von Marie von Kleist, geb. Gualtieri (1761-1831), einer Vertrauten der preußischen Königin
Luise.



1799 Am 4. April erhält Kleist den erbetenen Abschied aus dem Militärdienst. Am 10. April wird er an der
Universität Frankfurt an der Oder immatrikuliert. Er studiert Physik, Mathematik und hört Vorlesungen über
Philosophie, Kulturgeschichte und Naturrecht.



1800 Anfang des Jahres verlobt sich Kleist (inoffiziell) mit der Frankfurter Generalstochter Wilhelmine von
Zenge (1780-1852). Im Sommer bricht er nach drei Semestern sein Studium ab und geht zur Vorbereitung auf
den preußischen Staatsdienst nach Berlin. Auseinandersetzung mit den Philosophien Immanuel Kants und Jean
Jacques Rousseaus.



1801 Sog. „Kantkrise“. Von Juli bis Ende November hält Kleist sich in Paris auf. Ende Dezember reist er nach
Basel.



1802 Bis Oktober weilt Kleist in der Schweiz. In diese Zeit fällt der Beginn seiner schriftstellerischen Arbeit. Im
Mai löst er die Verlobung mit Wilhelmine von Zenge.



1803 Von April bis Juli ist Kleist in Dresden. Von Dresden aus unternimmt er bis Oktober mit dem Freund Ernst
von Pfuel (1779-1866) eine Reise nach Bern, Mailand, Genf und Paris.
Ende November bricht Kleist in Mainz zusammen und wird mehrere Monate von dem Republikaner, Arzt und
Schriftsteller Georg Wedekind (1761-1831) behandelt.


1804 In der ersten Jahreshälfte soll er wiederholt in Paris gewesen sein. Anfang Juni kehrt Kleist nach Preußen
zurück. Er will sich zum preußischen Staatsbeamten ausbilden.



1805 Ab Mai arbeitet Kleist als Diätar unter dem Reformer Hans Jakob von Auerswald (1757-1833) an der
Domänenkammer in Königsberg und besucht finanz- und staatswissenschaftliche Vorlesungen bei Christian
Jakob Kraus (1753-1807).



1806 Im August scheidet Kleist aus dem Staatsdienst aus. Am 14. Oktober besiegt Napoleon Preußen; dieses
wird größtenteils von Frankreich besetzt.



1807 Von Januar bis Juli befindet sich Kleist im Fort de Joux und Châlons sur Marne in französischer
Gefangenschaft. Nach seiner Freilassung Ende Juli begibt er sich nach Dresden.
1808 In Dresden gibt Kleist zusammen mit dem Philosophen und Staatstheoretiker Adam Heinrich Müller
(1779-1829) die Monatsschrift „Phöbus. Ein Journal für die Kunst“ heraus. Er ist häufig zu Gast im Hause
Christian Gottfried Körners (1756- 1831). Im Juli lernt Kleist Ludwig Tieck (1773-1853) kennen.



1809 Von Ende April bis Oktober hält Kleist sich in Österreich auf, meistens in Prag. Im November kehrt er
nach Preußen zurück.



1810 Ab Februar ist Kleist ständig in Berlin. Ab 1. Oktober gibt Kleist die erste Tageszeitung Berlins, die
„Berliner Abendblätter“ heraus. Konflikte mit der Zensur.



1811 Am 30. März erscheint die letzte Ausgabe der „Berliner Abendblätter“. Kleist hat freundschaftlichen
Umgang mit dem Berliner Romantikerkreis (Arnim, Brentano, Fouqué, Rahel Levin) und Kontakte zu
Reformpolitikern (Altenstein, Gneisenau). Er unternimmt verzweifelte Versuche zur Existenzsicherung und zum
Wiedereintritt in die preußische Armee. Am 21. November gemeinsamer Freitod mit Henriette Vogel (geb.
1780) am Kleinen Wannsee.

„ICH VERSCHAFFE MIR RECHT“ M.K. Die Geschichte eines Querulanten von 1532- 2025

Das historische Vorbild – Hans Kohlhase
Heinrich von Kleists Novelle „Michael Kohlhaas“ basiert auf einer realen Begebenheit aus dem 16.
Jahrhundert. „Als dem aus Cöln a.d Spree (heute Teil von Berlin) stammenden Kaufmann Hans Kohlhase
im Oktober 1532 auf dem Weg zum Leipziger Michaelismarkt von dem sächsischen Adeligen Günter von
Zaschwitz seine beiden Pferde geraubt wurden, forderte er zunächst mit einer Klage sein Recht ein. Er
stieß jedoch rasch an die Grenzen des feudalen Rechtsstaates, denn der sächsische Landvogt Hans
Metzsch und der Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen deckten den Adligen. Daraufhin erklärte
Kohlhase in einem offenen Brief vom 12. März 1534 dem Land Sachsen und Günter von Zaschwitz die
Fehde, womit Brandschatzung, Raub und Entführungen angekündigt wurden. (…) Was zunächst wie eine
Privatfehde aussah, wurde in jenen unruhigen Zeiten zur Fortsetzung des Bauernkrieges mit anderen
Mitteln.“ Kohlhase ging in den Untergrund und hatte bald mehr als 300 Mitstreiter aus dem „einfachen
Volk“, denn sein Kampf hatte in der Mark eine soziale Basis.
Nachdem sich Kohlhase mit einem Überfall auf einen brandenburgischen Silbertransport 1540 auch
gegen den brandenburgischen Kurfürsten Joachim II. wandte, lockte dieser ihn unter Zusicherung freien
Geleits nach Berlin und ließ den „Landfriedensbrecher“ sowie dessen Freund Georg Nagelschmidt am
22. März 1540 auf dem Rabenstein, der Berliner Richtstätte vor den Toren der Stadt am heutigen
Strausberger Platz, qualvoll rädern. Mit dem Spruch Georg Nagelschmidts „Gleiche Brüder, gleiche
Kappen“ lehnte Kohlhase eine „Begnadigung“ mit dem Schwert ab.
„Wie der sagenumwobene Engländer Robin Hood im 13. Jahrhundert und der Wismarer Klaus
Störtebeker (1360-1401) (…) wurde er zum Sympathieträger des einfachen Volkes in Berlin und in der
Mark Brandenburg, weil er den Kampf mit der Obrigkeit wagte und den gestohlenen Reichtum der
Wohlhabenden den Armen zurückgab.“ Der Ort, an dem Hans Kohlhase den von Joachim II.
erbeuteten „Silberkuchen“ unter einer Brücke versteckt haben soll, heißt bis heute Kohlhasenbrück und
liegt im Berliner Bezirk Steglitz Zehlendorf.
Heinrich von Kleist war der „Fall Kohlhase“ wohl aus zwei Quellen bekannt: Zum einen aus der
märkischen Chronik von Peter Hafftiz und zum anderen aus einem überlieferten Brief von Martin Luther,
der Kohlhase tatsächlich zum Einlenken bringen wollte: „Demnach, so Ihr meines Rates begehret (wie Ihr
schreibet), so rate ich, nehmet Friede an, wo er Euch werden kann, und leidet lieber an Gut und Ehre
Schaden, denn dass Ihr Euch weiter sollt begeben in solch Fürnehmen…“

Von „Michael Kohlhaas“ (1808) zum „Kohlhaas Syndrom“
Kleist geht in seiner Novelle weit über die tatsächlichen Begebenheiten hinaus. Nicht nur kritisiert er die
Korrumpiertheit des zu seiner Zeit herrschenden Systems, das den sein Recht einklagenden Menschen
kujoniert („wer sich als Querulant im bürokratischen Netz der preußischen Macht verfing, der musste mit
einer Gefängnis- oder Zuchthausstrafe (…) bis zu sechs Monaten rechnen“), er erschafft darüber hinaus
ein hochkomplexes Gleichnis des Menschlichen, in dem es um existentielle Fragen des Rechts und der
Gerechtigkeit geht. Kleists Erzählung gehört zu den wirkmächtigsten Texten in deutscher Sprache, weil
jede Generation in ihrer je anderen Gegenwart immer wieder neu bestimmen muß, welchen Preis sie zu
zahlen bereit ist, um Gerechtigkeit durchzusetzen. Wo es Recht gibt, gibt es auch Unrecht. Das eine
kann ohne das andere nicht sein. So umkreist der Text bleibende Fragen: Kann Recht relativiert werden?
Und im Zusammenhang damit: Welches Gewicht hat der konkrete Anspruch des Einzelnen gegenüber
dem der abstrakten Allgemeinheit. Letztlich: Gibt es legitime Gewalt? Die Konfliktlinie läuft direkt in unser
Grundgesetz und bestimmt die Diskussionen um Grundrechte in Zeiten dieser oder jener Krise.
Heute beschäftigt der Fall des „ersten Querulanten der Literaturgeschichte“ auch Jus- und
Medizinstudenten. Nicht nur ist „Michael Kohlhaas“ wegen seiner Komplexität und Unauflösbarkeit in
Rechtsfragen Pflichtstoff für angehende Juristen, auch in der Psychiatrie ist Kohlhaas zu finden. „Ärzte
und Ärztinnen sprechen heute nicht lediglich vom paranoiden Querulanten-Wahnsinn, sondern auch
vom sogenannten „Michael-Kohlhaas-Syndrom“, wenn bei Patienten ein anormales Rechtsgefühl
diagnostiziert wird. Eines des Diagnosekriterien ist das massenhafte Verfassen von Schriftstücken aller Art.
Nur dass es sich dabei heute nicht um Briefe und Plakate handelt, sondern um E-Mails, Online-
Kommentare und Blog-Beiträge“.

„KOHLHAAS“ – Ein Stück italienisches Erzähltheater

Der 1950 in Italien geborene Schauspieler Marco Baliani adaptierte gemeinsam mit dem Kinder- und
Jugendtheaterautor Remo Rastagno1998 Kleists Novelle und erfand sie in der Tradition des italienischen
„Erzähltheaters“ neu. Einen Stuhl und sich selbst – mehr brauchte er dazu nicht. Auf die Frage, warum er
sich entschieden habe, Kohlhaas für junge Menschen zu erzählen, sagte Rostagno: „…weil Kohlhaas wie
ein Kind ist, bevor es durch Erziehung zurechtgebogen wird, gerecht und schrecklich, narzisstisch und
nachtragend. Kohlhaas ist kein Held, er ist die Verkörperung einer zeitgemäßen Gestalt, es ist eine
Geschichte über Bürokratentum, Korruption, Mißbrauch und Gewalt, vor allem aber über eine erlittene
Suche nach Gerechtigkeit. Ich wollte und musste eine Möglichkeit finden, diese Gestalt auf das Theater
zu bringen. Die Stimme von Marco Baliani hat es möglich gemacht.“

„Ich hab ein Recht auf Recht. Und auf Gerechtigkeit. Solang es sie nicht gibt, solang ist dieser Krieg ein rechter.“

 

Überlegungen der Regisseurin Rosmarie Vogtenhuber-Freitag
Auf einer maroden Friedhofsmauer in Berlin Kreuzberg steht in weißen, großen Lettern der Satz: „Ich
verschaffe mir Recht. M.K.“. Seit ich denken kann, entfesselt Ungerechtigkeit, auch wenn sie anderen
widerfährt, in mir sofort den wütenden Impuls, reagieren zu müssen, irgendetwas zu tun. Schon als
kleines Mädchen war das so. Fast glaube ich, dass ich – da ich zur Friedenskämpferin einfach nicht
tauge – dieses starken Gerechtigkeitsempfindens wegen zum Theater gegangen bin. Es ermöglicht mir,
der eigenen, lähmenden Sprachlosigkeit zu entkommen und mich „durch andere“ zu artikulieren.
Neben Kleists gigantischer Sprachgewalt (die mich schon als Schülerin euphorisiert und erschreckt hat)
ist es die Unauflösbarkeit des Konfliktes, die Unmöglichkeit zu beurteilen, was „richtig“ ist, die mich am
Kohlhaas so fesselt. Wenn er sich nach erlittenem Unrecht Recht verschaffen will, weil es Gesetze gibt,
die ja gelten müssen, für alle, also auch für ihn, kann ich das nur zu gut verstehen. Worüber ich
erschrecke, ist, dass auch mir die immense Wucht und verbissene Beharrlichkeit, mit der sich
Kohlhaasens Wut bahnbricht als sein eigenes Recht, das über allem steht, im Innersten nicht fremd ist.
Nichts rechtfertigt den Krieg, den er vom Zaun bricht. Aber auch nichts rechtfertigt die mindestens
ebenso verbrecherische Arroganz der herrschenden Klasse, die das Recht zu ihren Gunsten
widerrechtlich beugt. Was ist also richtig? Das Maul halten und kuschen oder aufbegehren? Welchen
Stellenwert hat das persönliche Recht gegen das einer Allgemeinheit? Gibt es ein Recht der
Allgemeinheit überhaupt?
Dieses Dilemma hat mich in den letzten Jahren beschäftigt, ja manchmal schier zerrissen. Der
gesellschaftspolitische Humus der Gegenwart sowie das Gebaren heutiger „Landesherren“ und die
durch sie initiierten Verordnungen haben so viele „Kohlhaase“ hervorgebracht, deren Handeln, selbst
wenn man es missbilligt, im Kern verständlich ist und auf seine Weise „Recht“ wiederherzustellen
versucht. Was ist der Ausweg, der immer drängender Not täte? Für mich als Theatermensch beginnt
diese Geschichte im Krieg, den sie entfesselt und der immer bleiben wird, solange Menschen Menschen
sind. Solange es nicht gelingt, zu vergeben, wie von Luther oder heute u.a. von Eugen Drewermann
gefordert. Auf allen Seiten die Fehler einzugestehen. Offen und ohne eigennützige Hintergedanken sich
um Frieden zu bemühen. Es gibt keinen gerechten Krieg. Um Frieden zu ermöglichen müssten wir
einander, ohne abzuurteilen zuhören. Man kann es nur tagtäglich selbst versuchen und hoffen, dass es –
anders als von Kleist vorausgesehen – irgendwann gelingen möge.

Begriffe im Kohlhaas

Amnestie

Aus dem Altgriechischen übersetzt heißt Amnestie „Vergessen“, „Vergebung“. Im heutigen Sprachgebrauch bedeutet Amnestie, dass ein Staat bzw. dessen Regierung darauf verzichtet, Menschen, die eine bestimmte Straftat begangen haben, zu bestrafen.
Bei der Amnestie geht es um alle Menschen, die eines bestimmten Vergehens schuldig sind. So wäre es theoretisch zum Beispiel denkbar, dass eine Amnestie für alle diejenigen erfolgt, die bisher ihre Steuernnicht korrekt gezahlt haben. Sie würden dann nicht mehr strafrechtlich verfolgt. Die Amnestie bezieht sich immer auf Taten, die in der Vergangenheit liegen. In Deutschland kann eine Amnestie nur durch ein Gesetz(„Straffreiheitsgesetz“) erlassen werden.

Geheimschreiberei

Der Begriff stammt aus dem 18. Und 19. Jahrhndert und bedeutet soviel wie Kanzlei.

Hellebarde

Die Hellebarde oder auch Helmbarte ist eine Mischform von Hieb- und Stichwaffe, die die Mannstoppwirkung eines Spießes mit der panzerbrechenden Wirkung der Axt kombinierte. Sie gehört zu den Stangenwaffen des Fußvolks und wurde vorwiegend vom 14. bis zum 16. Jahrhundert verwendet.

Hinz & Kunz

Kleist meint hier zwei hohe Beamten am Hofe von Berlin, die für einen speziellen Menschenschlag stehen. Später wurde daraus eine Redewendung.

Insinuation

veraltet für Unterstellung, Verdächtigung

Querulant

Jemand, der gerne klagt

Resolution

Das Wort kommt aus dem Lateinischen und bedeutet „Beschluss“ oder „Entschließung“. Man benutzt den Begriff oft, wenn eine große Organisation wie die UNO (Vereinten Nationen) etwas beschließt. Im Kohlhaas handelt es sich um einen Beschluss aus der Staatskanzlei.

Schlagbaum

Grenze, Schranken.

„Querulant, ein Klagesüchtiger; querulieren, gern klagen.“

Friedrich Erdmann Petri,
Sprachliches Handwörterbuch für Deutsche (1817)

Quellen und Texte:

„Ein Mensch der alles ist“ Zitate aus: Hohoff, Curt: Kleist, rororo Bildmonografie, Hamburg, 1958, S12 / Kluge, Alexander: Heinrich von Kleist
– Ein Gewitterleben, Wallstein Verlag, Göttingen 2023,S. 164 / Kleist, Heinrich v.; Brief an Ulrike v. Kleist in: Sämtliche Werke und Briefe Bd 2. Hg von Helmut Sembdner, DTV München 1987, S 886 / „Das historische Vorbild – Hans Kohlhase“ Zitate aus: Friedrichshainer Geschichtsverein Hans Kohlhase e.V. https://www.friedrichshainer-geschichtsverein.de/ kohlhase.php / / D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe) Briefwechsel. Bd 7 Weimar: Hermann Böhlaus Nachf., 1937. S. 124f. / „Von Michael Kohlhaas 1808 zum Kohlhaas-Syndrom“ Zitate aus: Gaederer, Rupert: Querulieren – Kulturtechniken, Medien und Literatur 1700-2000 Media. Literaturwissenschaftliche Forschungen J.B. Metzler Springer Nature 2021, S. 65 und S. 91 ff / Freitag, Michael: Wohnzimmergespräche, Quedlinburg, 2024 / „Kohlhaas – Ein Stück italienisches Erzähltheater“ Zitat von Remo Rostagno aus dem Anhang des Textbuches vom Theaterstückverlag, München 1998 / „Ich hab ein Recht auf Recht“ Dieser Artikel wurde für dieses Programmheft verfasst. / Das Bild wurde aufgenommen in der Golßener Straße, Berlin Kreuzberg. Der Hinweis auf das Motiv stammt aus: Gaederer, Rupert: Querulieren – Kulturtechniken, Medien und Literatur 1700-2000, S.314



Impressum:

HARZTHEATER gGmbH Halberstadt/Quedlinburg 2024/2025 | Intendant MD Johannes Rieger | Redaktion: Rosmarie Vogtenhuber-Freitag |
Grafische Gestaltung: Dirk Grosser | Probenfotos: Elisabeth Rawald
Urheber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.